DINGE DIE VERLOREN GEHEN
Eine neue Geschichte von Mikis Wesensbitter
Ich bin 70er Jahre ostsozialisiert und damit aufgewachsen, dass man die Dinge, die man mitnimmt, auch wieder mit nach Hause bringt. Das galt für so ziemlich alles, vom Anorak angefangen, über das Nicki bis hin zum Campingbeutel. Selbst für Taschentücher. Denn die waren damals noch aus Stoff. Hatte die Hose keine Taschen (so was gab´s tatsächlich!), bekam man einen selbstgestrickten Taschentuchbeutel um den Hals gehängt.
Ganz verboten war es, Schlüssel zu verlieren. Das konnte zwar vorkommen, aber dann musste man sich so lange auf die Suche machen, bis man ihn wiedergefunden hatte. Und dann war er ja auch schließlich wieder da.
Auch auf der Straße traf man eigentlich so gut wie nie auf verlorene Dinge. Außer im Ferienlager und auf Autobahnparkplätzen. Doch das schnallte ich schon mit 7 Jahren, dass die weißen Feinripp-Unterhosen, die da rumlagen, nicht wirklich verloren gegangen waren, sondern dass sie entsorgt worden waren. Sah man ja auch meistens gleich, dass da ordentlich was in die Buxen gegangen war. Damit wollte man natürlich nicht mehr nach Hause gehen.
Im Westen ist es viel leichter, Dinge zu verlieren. Das haben die meisten Zonies ja gleich nach der Wende an ihren Jobs gemerkt. Oder später mit ihren Wohnungen. Aber um so was soll es hier nicht gehen. Ich dokumentiere einfach mal Dinge, die ich in Berlin finde.
Teil 1: Das Unterbekleidungsstück im Treppenhaus
Ein schönes Wort aus der Vergangenheit ist „Untertrikotagen“. Benutzt ja heute leider kaum noch einer. Zu den „Untertrikotagen“ zählen fast alle Sachen, die man direkt auf der Haut trägt. Und die einem somit ziemlich nah sind. Die Chancen, die zu verlieren, sind eigentlich ziemlich gering. Und doch passiert es! Aber wie?
Das frage ich mich auch, als ich im Hausflur zwischen erster und zweiter Etage das Kleidungsstück liegen sehe. Es ist nicht mein Hausflur und ich kenne kaum Leute, die hier wohnen. Das macht es noch schwieriger. Bei mir Zuhause könnte ich zumindest auf Kathrin aus dem dritten OG tippen, die mal wieder nach einer Sangria-Party ihren Büstenhalter als Sombrero benutzt hat. Aber dafür ist das Ding eigentlich auch viel zu klein…
Corinna war eigentlich ganz zufrieden mit sich und ihrem Leben. Ihre Titten hatten die Stellung gehalten, der Arsch blieb noch nicht im Drehkreuz stecken und die depressiven Episoden waren seltener geworden, seitdem sie ihre Tage nicht mehr bekam. Und außerdem konnte sie tun und lassen, was sie wollte, seit sie Single war. Ganz unweiblich zog sie hoch und spuckte sowohl den Namen Holger als auch eine schöne Ladung Rotze aus.
„Siehste Corinni, sogar aulen kannste jetzt wie ne Große!“ sagte sie zu sich selbst. Und kicherte dabei.
Sie hatte Schlagseite, eine angenehme. Daran war nicht sie schuld, sondern der Typ, mit dem sie sich gerade in der „Zukunft am Ostkreuz“ getroffen hatte. Auf Finja hatte er geschrieben, er sei schlank. War er aber gar nicht. Im Gegenteil. Er war fett. Dünne Arme, dünne Beine, einen kurzen Hals und dazwischen mindestens die unterste Kugel vom Schneemann. Eigentlich hätte sie sich sofort umdrehen wollen und gehen, aber sie mochte sein Lächeln und an irgendwas erinnerte er sie.
Während sie ein Bier trank, trank er drei. Was ihm auch bei ihrer zweiten Runde nichts ausmachte. Er lallte nicht, er erzählte keinen Blödsinn und er fing auch nicht mit schmierigen Bemerkungen über ihren Körper an. Als er zum Tresen stapfte um eine nächste Runde zu bestellen, da stand es dann 3:9, blickte sie ihm hinterher und ihr fiel ein, woran er sie erinnerte. An früher nämlich. Genau so hatte sie bis zur Einschulung immer Menschen gemalt. Einen Kugelkörper mit vier Strichen dran, die Arme und Beine sein sollten. Sie musste lachen. Dann war er also nicht ihr Traummann, dafür aber ihr Kindergartenstrichmännchen.
Beim zehnten Bier sagte er: „Wird nix mit uns beiden. Das passt nicht.“
„Aha!“ antwortete sie überrascht.
„Ja, tut mir leid, aber du trinkst einfach zu langsam!“ dabei grinste er. „Nee, mal im Ernst. Ich find dich gut und lustig. Aber mein Herz hüpft nicht.“
Sie war erleichtert, denn für sie stand es vom ersten Moment an überhaupt nicht zur Debatte, dass da was laufen würde zwischen ihnen. Und sie hatte schon überlegt, wie sie ihm das beibringen sollte, ohne verletzend zu werden.
„Macht nüscht. War trotzdem ein schöner Abend!“ antwortete sie.
Zum Abschied drückten sie sich kurz und sie fand das schau. Weil sie schon seit Jahrzehnten keinen Schneemann mehr umarmt hatte.
Als sie vor ihrer Haustür stand und ihren Schlüssel nicht finden konnte, bekam sie eine Panikattacke. Dabei war sie sich sicher, dass sie ihn in die Jackentasche gesteckt hatte.
„Durchatmen Corinni! Ganz tief durchatmen!“ sagte sie zu sich selber.
Und dann ertasteten ihre Finger ein Loch in der Tasche und bald darauf fand sie auch den Schlüssel, der sich im Jackensaum versteckt hatte. Als sie ihn herausgezogen hatte, hatte sich ein Stück Stoff daran festgehakt. Weil es dunkel war, konnte sie aber nicht erkennen, was es war. Erst im Hausflur im Schein der Lampen erkannte sie es. Ihr graues Top, oder, wie Mutti immer sagte, Bustier. Wobei Mutti ja eher Bus-Tier daraus machte. Das musste da schon ewig drin gesteckt haben, sie konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern, wann sie das Teil zum letzten Mal gesehen hatte.
Und da fiel ihr plötzlich alles wieder ein. Die ganze Coronascheiße, die vor drei Jahren begonnen hatte. Der erste Lockdown, zusammen mit Holger. Der immer paranoider wurde, alle zehn Minuten auf den Ticker der Bundesregierung starrte, ihr die aktuellen Fallzahlen und Todesfälle zurief. Der sich nach zwei Wochen weigerte überhaupt noch auf die Straße zu gehen, das öffentliche Seuchengebiet zu betreten und jedweden persönlichen Kontakt zu anderen Menschen abbrach. Corinna musste sich vor dem Betreten der Wohnung die Hände desinfizieren und ihre kontaminierten Klamotten sofort in die Waschmaschine stecken. Später, als es dann ums Impfen ging und sie ihre Zweifel an den Impfstoffen kundtat, beschimpfte er sie als rechte Schwurblerin, als Laus im Volkskörper, als egoistisches und wissenschaftsfeindliches Schadwesen. Dass er sie dann verließ, weil er sich in seine Impfärztin verliebt hatte, empfand sie als große Befreiung. Irgendwann jedenfalls in dieser Zeit des ersten Lockdowns wurde es ja zum Zwang, eine Alltagsmaske zu tragen, weil es nichts anderes gab. Corinna konnte nicht nähen und benutze deshalb ihr Top als Maske. In den ersten Wochen sah das besonders schräg aus, weil links und rechts auf Höhe der Ohren zwei Zipfel rausstanden, nämlich die Abdrücke, die ihre Nippel dort hinterlassen hatten. Mit der Zeit verschwanden die aber.
Überwältigt von der Bilderflut in ihrem Kopf und den ganzen negativen Emotionen, die diese auslöste, feuerte sie das Stoffding auf den Treppenabsatz. In ihrer Wohnung goss sie sich ein großes Glas Absinth ein. Dann holte sie den pinkfarbenen Brummzauberstab aus dem Liebesspielzeugfach in der Kommode, warf sich aufs Sofa und sorgte für Entspannung.
Als sie am nächsten Tag von der Arbeit kam, sah sie, dass jemand das Unterbekleidungsstück ordentlich zusammenfaltet auf dem Fensterbrett positioniert hatte.
„Na dann kommste eben mit, du dummes Ding! Ich weiß schon, wo ich dich hinpacke!“ sagte sie und griff danach.
Im Schlafzimmerschrank, ganz unten links stand eine Kiste. Ihre Toxic-Kiste. Die holte sie nur sehr selten hervor, aber offensichtlich war jetzt mal wieder der Moment dafür gekommen. Corinna setzte sich im Schneidersitz auf den Schafsfellbettvorleger, überkreuzte die Finger, atmete in den Bauch und dann hob sie den Deckel ab.
„Grrrr!“ zischte sie, als sie ganz oben den Abschiedsbrief von Fick-Fack-Holger erblickte. Diese siebenseitige Abhandlung über das Unbehagen, das ihre Schulmedizinablehnung in ihm auslöste, über den Ekel vor ihrem Tabakkonsum in Zeiten einer weltweiten Atemwegspandemie, den er empfand und die tiefe Verachtung über ihr an Alkoholmissbrauch grenzendes Trinkverhalten. Schon aus Selbstschutz wäre er gezwungen sie zu verlassen, um nicht selbst zum Kollaborateur der Querdenker-Faschisten und Wissenschaftsfeinde zu werden.
Darunter lag der Impfpass. Ja, sie hatte sich tatsächlich impfen lassen und das erfüllte sie auch fast anderthalb Jahre später noch mit Scham. Aber irgendwann konnte sie einfach nicht mehr. Verlassen, allein und dann auch noch ausgegrenzt durch die 2G-Scheiße, das hatte sie nicht ertragen. Sie musste unter Leute, sie musste irgendwas erleben. Und dafür zahlte sie als Preis, sich eine dreckige Substanz in den Körper pumpen zu lassen. Sie hatte sogar noch kämpfen müssen, um sich mit „Johnson&Johnson“ impfen zu lassen. Denn davon reichte ja schon eine Dosis.
Als sie den grauen Top in die Kiste legen wollte, fiel ihr Blick auf die Voodoo-Puppe, der sie das Gesicht von Jens Spahn aufgeklebt hatte. Das wäre ja jetzt auch mal wieder an der Zeit, schoss ihr durch den Kopf, während sie die Nadeln herauszog. Und dann machte sie sich genüsslich an die Arbeit. Ob es Zufall war, dass die meisten davon im Unterleib landeten, war ihr egal. Hauptsache sie blieben ganz tief drin stecken.
Denn dieser Wichser hatte immer gelogen, selbst zum Schluss noch.
Es gab nämlich keinen Grund, etwas zu verzeihen.
Nicht einen einzigen!