WIR HATTEN JA NÜSCHT…TAGE IM JANUAR 1989
Freitag 06.01.1989
Auf Arbeit „Zeit zu leben, Zeit zu sterben“ ausgelesen. Karin hat einen Pullover fertig gestrickt. In der ganzen Woche hat nur ein einziges Mal das Telefon geklingelt.
„Nächste Woche wird’s nicht so ruhig“, sagt Karin und betrachtet zufrieden den Norwegerpullover.
Abends Freundetreffen in der Broilerbar. Dario hat seinen zweiten Text fertig:
Tote Männer, tote Frau‘n,
niemand kann man hier noch traun.
Keine Ziele, keine Träume,
wir verwesen ohne Freiräume!
Naja irgendwie ist das auch wieder nicht die Erleuchtung. Im Schmenkel ist Disco und ich lass mich von der Roten-Rita angraben. Wir trinken Cola-Apricot bis wir nicht mehr gerade stehen können und gehen irgendwann zu ihr. Als wir im Bett liegen, sagt sie: „Boah, du hast ja nen urst schauen Pullermann!“
Nach diesem Spruch ist er zwar immer noch schau, aber nicht mehr groß.
Sonnabend 07.01.
Kohlen sind fast alle. Eigentlich sollte noch eine ordentliche Reserve da sein, aber irgendwie ist die weg. Ich hab rechtzeitig im September bestellt, aber die kommen mal wieder mit dem Liefern nicht hinterher. Muss ich mich drum kümmern. Gerade als es in der Bude warm wird, kommt Torsten mit seiner neuen Freundin Kathi. Wir gehen Mittagessen in der Budicke in der Ebertystraße. Torsten bestellt Sülze, Kathi Schnitzel und ich Kassler. Schmeckt super. Nach dem Essen bleiben wir sitzen und trinken ein paar Bier. Zu Hause muss ich Kohlen nachlegen.
Dienstag 10.01.
„Mir ist langweilig“, sagt Karin.
„Mir auch!“, sag ich.
„Na dann los, dann lass uns mal die Arbeits- und Lebensbedingungen der Werktätigen verbessern gehen!“
Wir gehen in die Abteilung 4, die Fertigung. Es stinkt nach Schmieröl und es herrscht ein Höllenlärm. Als wir auftauchen, rollen die Jungs an den Maschinen mit den Augen und der Meister fragt: „Wat wollt ihr denn hier? Ihr stört!“
„Wir wollen die Arbeitsbedingungen verbessern.“
„Och nö, nicht schon wieder. Das bringt doch nur wieder alles durcheinander. Geht einfach in die Abteilung 7, da könnt ihr was verbessern.“
„Is jut“, sagt Karin und lädt mich auf ein Bauernfrühstück in die Kantine ein. Ich find fünf Speckknorpelstücke im Essen, Karin nur vier. Deshalb muss sie auch noch den Pudding holen.
Bis Schichtschluss lesen wir in unserem Büro.
Mittwoch 11.01.
Nach dem Mittag ziehen wir los zur Abteilung 7, der Härterei. Da sind 55 Grad und niemand ist da. Karin kennt sich aus und geht zielstrebig durch die Halle. Überall blättert die Farbe von den Wänden und Hitzeschwaden wallen durch die Luft.
„Ihr habt hier Hausvabot“, brüllt jemand und dann seh ich im Nebel die ganzen Arbeiter um einen Tisch sitzen und Klaren saufen.
„Kollege Müller? Wir waren doch verabredet, um über die neue farbliche Gestaltung der Abteilung zu reden“, ruft Karin in den Nebel.
„Ach Scheiß drauf. Die neue Farbe blättert doch eh gleich wieder ab. Lasst uns einfach in Ruhe und geht der Abteilung 4 auf die Eier.“
„Machen wir“, flötet Karin und wir gehen.
„Was war das?“, frage ich sie.
„Die Härterei eben. Die arbeiten nur bis zum Mittag, danach löten sie sich zu. Bei der Hitze geht das besonders gut. Aber jetzt haben wir die auch abgehakt. Komm wir gehen lesen.“
Mit Dario ins Elsen-Eck. Er hat den dritten Text für seine Band fertig:
Leichenberge an der Mauer,
jetzt wird Wut aus unsrer Trauer.
Wir bau’n Bomben und Granaten,
zerstören den welken Stasigarten.
„Zu politisch?“, fragt er.
Nö, gar nich’.
Freitag 13.01.
Freitag der 13.! Da bin ich immer ganz besonders vorsichtig. Der Morgen fühlt sich aber normal an. Den ganzen Tag auf die Schreibmaschine eingehämmert. Schaff es jetzt, nicht darüber nachzudenken, was ich da tippe. Sollen die doch rosa streichen, was sie wollen. Oder grün. Oder auch nicht.
Im Schmenkel spielen Wartburgs für Walter. Die sind ziemlich cool. Ich tanze und hab irgendwann eine Zunge im Ohr. Die Rote-Rita. Sie verspricht, nie wieder das P-Wort zu sagen. Wir gehen zu ihr und mit einer Flasche Rotwein ins Bett. „Fühl mal, wie feucht mein Flansch ist“, sagt sie.
Treffer. Ich werde nie wieder mit der mitgehen!
Samstag 14.01.
Die Kohlen sind komplett alle. Kann doch nicht wahr sein. Irgendwer klaut hier! Ich suche die Gänge ab und finde schnell heraus, wer hier sonst noch keine Kohlen hat. Frieder Schulz, aus’m Hinterhaus. Das ist doch die komische Hippiesau. Ich geh direkt hin. In seiner Bude läuft laut All Along the Watchtower. Ich muss lange klingeln, bevor er öffnet.
„Wat’n?“, fragt er.
Ich greife in seine fettigen Haare und zieh ihn in den Hausflur. „Kommste ma mit Friedel, irgendwer oder irgendwas spukt im Keller.“
„Aua, du tust mir weh!“
„Weißte, was mir weh tut? Wenn meine Kohlen ständig verschwinden und ich in der Kälte sitze. Lass uns mal ein Anti-Klau-Kollektiv gründen!“
Ich schleif ihn an seinen Haaren hinter mir her. Nach drei Treppenstufen gibt er auf.
„Ja, man, tut mir leid, kann sein, dass ich das war. Hab bestimmt im Suff die Kellertüren vawechselt. Aua, lass mich bitte los, Montag hast du den Keller voll. Ich kenn den Kohlenmunk. Der macht ne Sonderfuhre für mich. Aber bezahlen musste selber.“
„Das hoff ich für dich. Ich friere nämlich nicht so gerne. Und Jimi Hendrix find ich auch scheiße. Weißt ja, dass Vinyl nicht ewig lebt! Wenn ich sauer werde erst recht nicht.“
Ich fühl mich schlecht, aber auch gut. Der Typ ist ja nicht nur asozial, sondern der schreibt auch noch Gedichte und führt seinen eigenen Krieg gegen die Gesellschaft. Soll er machen. Aber nicht gegen mich!
Sonntag 15.01.
Die ganze Nacht den Backofen angelassen, damit es nicht vollkommen auskühlt in der Bude. Mittags mit Hagen in Oberspree getroffen. Wir gehen in der Klubgasstätte Narva essen. Hatten beide Ragout fin als Einstieg, er dann Zigeuner-Steak, ich Steak Champignon. Nach dem Essen machen wir Geschäfte. Ich kriege zehn Zwanzigerpacks Fotos, er 100 Mark. Steile Preissteigerung, beim letzten Mal kostete das noch 75 Mark. Aber für mich lohnt sich das immer noch.
Abends mit Marco und Torsten in den Palast der Republik. Anspruchsvoll-Abend. AG Geige und Expander des Fortschritts. Ich geh nur mit, weil es zu Hause zu kalt ist. Und ich Konzerte im Palast mag. Die Rote-Rita ist auch da, aber die macht einen großen Bogen um mich. Besser so.
Dienstag 17.01.
Karin und ich sind fertig mit unseren Arbeitsprotokollen. Sie gibt mir Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zum Lesen. Damit niemand den Buchtitel sieht, hat sie es in das Neues Deutschland vom letzten Samstag eingeschlagen. Ich lese und sie strickt einen Union-Schal für ihren Sohn. Ich bestell auch gleich einen für mich.
Donnerstag 19.01.
Haushaltstag wegen der Kohlenlieferung. Der Kohlenmunk ist stinkig und will kein Trinkgeld. „Sag dem Gedichte-Ficker, dass er sich nie wieder bei mir melden soll!“ Ich stelle einen Solidaritäts-Buddeleimer mit sechs Briketts in Frieders Keller. Und hänge ein neues Schloss an meine Kellertür. Eins aus dem Westen! Das hat mich 50 Mark gekostet, aber das ist es mir wert.
Abends in den Palast zu Tina Has Never Had A Teddybär. Is’ okay.