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WESENSBITTER CLASSICS: Das rot-weiße Licht oder Sinkflug über Berlin/Treptow

Posted in - Bücher & Entertainment on September 9th 2015 0 Comments

Die folgende Geschichte ist wahr. Manchmal wünschte ich, sie wäre es nicht. Aber ich wurde nicht gefragt, ob sich 1986 meine Welt für immer verändern sollte.

(Geschrieben 2007 für den Literturwettbewerb „Jugend in Berlin“, veröffentlicht in den Anthologien „Der Himmelspfeifer“ und „Der perfekte Frieden“)

Wir standen dichtgedrängt in der Raucherecke hinter dem Schulgartenschuppen und zogen hastig unsere Zigaretten durch. Ich teilte mir meine mit Katrin Bern. Das erhöhte den Reiz um ein vielfaches, da ich nicht nur den Tabakgenuß bekam, sondern auch ihren Lippenstift am Filter schmecken konnte. Ich war vollkommen angekickt. Noch zwei Stunden Mathe und dann begann das Wochenende. Wir würden direkt von der Schule aus in die Alte Försterei fahren, naja nicht ganz direkt, vorher würden wir noch im Anglerheim einfallen und ein paar Pilze schießen. Boah, das würde geil werden. Heut würden wir die Sachsen weghauen, und ordentlich Spaß haben. Da ertönte plötzlich die Schulsirene.

„Sin‘ die doof Alter, machen in da Hofpause Alarmübung, so’n Scheiß, wo sowieso schon alle draußen sin‘!“ befand Thomas Onischke.

Aber irgend etwas an der Sirene klang heut anders.

„Det is nich Feuer, det is Fliegaalarm“ brüllte Kai Ebeling. Der wollte Offizier werden, und mußte sich mit so was ja auskennen.

„Na und wat machen wa da Alter? Solln wa uns alle uffstellen, damit die Amis uns besser treffen, oder lieba im Schulgarten vabuddeln?“ fragte ich.

„Is doch egal, die schmeißen sowieso mit Atom und wir strahlen glei alle wie die Weihnachtsbäume. Det is geil, denn sin‘ die Klamotten durchsichtig und wir sehen alle nackisch!“ stellte Mathias Kurz fest. Der hatte die totale Macke, und manchmal Recht. In der Kleingartenanlage und dem Wohnviertel begannen die Sirenen jetzt ebenfalls zu heulen und wir machten uns daran, unser Versteck zu verlassen. Langsam und unauffällig natürlich, denn für das Rauchen auf dem Schulhof stand ein Tadel. Es herrschte das reinste Chaos. Kinder rannten wild durcheinander, Lehrer schrien und versuchten jeder eine andere Richtung vorzugeben, bis die Direktorin mit einem Megaphon auf der Freitreppe erschien und befahl: „Alle in die Turnhalle, sofort alle in die Turnhalle.“

Ich wollte mich der Masse anschließen, aber Thomas hielt mich fest und zog mich hinter den Schuppen zurück.

„Nich da rin, laß uns draußen bleiben. Det is doch det reinste Massengrab, außadem will ick sehen wat abjeht.“

Ich wußte nicht was ich wollte, ich wußte überhaupt nicht, was hier passierte. Griffen uns die Amerikaner jetzt wirklich an? Das jahrelange, endlose Gerede über die Bedrohung und die Nato-Raketen war so einschläfernd geworden, das es keiner mehr ernst nahm. Und nun sollte es soweit sein? Ausgerechnet heute, wo der 1.FC Union mit einem Sieg ganz nach vorne kommen konnte. Eigentlich wollte ich doch lieber in die Turmhalle, dort wäre ich wenigstens an der Seite von Kathrin, könnte ihr gestehen, daß ich schon seit der 3.Klasse auf sie scharf war, und es mich auch nicht störte, das sie einen Kopf größer war, als ich. Dann würden wir uns endlich küssen und dabei gemeinsam sterben. Doch nun war es zu spät, denn neben den Sirenen, war ein dumpfes Dröhnen zu vernehmen, welches immer lauter wurde. Wir kauerten an der Schuppenwand und hielten uns die Ohren zu. Aus dem Dröhnen wurde ein Fauchen und als wir nach oben blickten, sahen wir ein gleißendes weißes Licht, das in geringer Höhe über unsere Köpfen hinwegzischte. War das eine Pershing oder eine Cruise Missile? Thomas schrieb ‘The Cure‘ auf seinen Arm und gab mir den Stift.

„Hier schreib och wat geilet ruff, denn wissen die Amis, det wir anders sin und lassen uns vielleicht am Leben!“

Gute Idee! Ich war gerade mit ‘Sisters Of‘ fertig, als mich eine eisige Hand am Hals packte und zu Boden stieß. Ich schrie, Thomas schrie und noch jemand schrie. Ein Stiefel stellte sich auf mein Gesicht und hinderte mich daran aufzublicken. Ich hörte fremdländische Stimmen. Albanisch? Chinesisch? Auf jeden Fall nicht englisch. Der Stiefel auf meinem Gesicht, der fürchterlich stank, wippte einen seltsamen Takt, und ich spürte, wie Hände in meinen Taschen zu wühlen begannen. Dann ließ der Druck plötzlich nach, ich bekam etwas Dunkles über den Kopf gezogen und wurde zum Aufstehen gezwungen. Mit erhobenen Händen stand ich da und versuchte irgendetwas zu erkennen. Aber das war unmöglich, das Ding um meinen Kopf, war vollkommen undurchsichtig. Wieder spürte ich Hände an mir herumfummeln, in meinen Taschen kramen und an meinen Schuhen hantieren. Wo war Thomas, fragte ich mich gerade, als ich direkt neben mir seine Stimme hörte.

„Eh du blöder Chemiker, nimm die Pfoten von meiner Levis, du…“

Ein komische Klicken war zu vernehmen, bevor er verstummte. Chemiker war unser schlimmstes Schimpfwort, denn es gab nichts fieseres, als Chemie Leipzig Fans. Ich trat wild um mich, als ich spürte, wie mir jemand meine Schuhe ausziehen wollte. Und ich brüllte, aber da durchfuhr mich ein Stromstoß, der mein Bewußtsein raubte.

 

Ich hatte keine Peilung, wo ich war, als ich wieder zu mir kam. Mein Kopf schien mit Zuckerwatte gefüllt zu sein. Oder mit rosa Plüsch. Jedenfalls lief es darin nicht normal ab. Meine Augen gehorchten nicht, sie ließen sich nicht öffnen. Vielleicht waren sie zugenäht? Mein Mund war ganz klebrig und meine Zunge bleischwer, aber ich schaffte es Töne zu produzieren. Unartikulierte Laute. Ich roch Desinfektionsmittel. Bedeutete das Sicherheit, oder eher nicht? Ich tauchte wieder ab.

Als ich das nächste mal wach wurde, schien wieder alles zu funktionieren. Ich sah, daß ich in einem weißen Raum lag, mit Gittern vor dem Fenster. Helles Neonlicht strahlte von der Decke und ich war auf dem Bett festgeschnallt. Das merkte ich, als ich mich bewegen wollte. Und ich merkte, daß ich dringend aufs Klo mußte. Sehr dringend. Also rief ich um Hilfe. Mehrmals. 5 Minuten lang. Ohne das etwas geschah und ich gar nicht anders konnte, als es einfach laufen zu lassen. Das war mir furchtbar peinlich, aber gleichzeitig eine große Befreiung. Die Tür flog auf und mehrere Männer in weißen Kitteln drängten sich in den Raum. Sie gruppierten sich um mein Bett und betrachteten mich skeptisch.

„Verstehst du mich? Kannst du mir antworten?“

„Ja!“ sagte ich und hörte, wie es anfing zu tröpfeln, erst ganz sacht, dann immer lauter. Die Herren sahen sich fragend an und blickten dann, alle gleichzeitig, unter das Bett, wo die Matratze dabei war ihr, oder eigentlich mein, Geheimnis zu verraten. Ich wurde rot vor Scham.

„Es hat mich keiner gehört, ich hab gerufen, aber es hat mich keiner gehört..“

„Ja, egal, kein Problem, Firlefanz, wir haben wichtigere Dinge zu klären!“ unterbrach mich eine strenge Stimme und schob sich zwischen den ganzen Anwesenden nach vorne. „Was ist passiert, auf dem Schulhof? Was ging da vor!“

Ich beschrieb ihnen, was ich erlebt hatte, aber sie ließen nicht locker, sie wollten immer neue Details wissen, und je weniger ich ihnen sagen konnte, desto hartnäckiger wurden sie.

„Was war das denn eigentlich? Waren das Pershings? Und wie geht es Thomas?“ fragte ich.

„Dem Jugendfreund Onischke geht es gut. Aber darum geht es jetzt nicht. Und was da passiert ist, würden wir gerne von dir erfahren. Also weiter, wie war der Geruch der Stiefel?“

Ich weiß nicht, wie lange sie mich befragten, ich schlief irgendwann einfach ein. Und so ging es weiter. Wurde ich wach, wurde ich umringt und so lange mit Fragen bombardiert, bis ich vor Erschöpfung einschlief. Ich durfte nicht aufstehen, hatte jetzt aber eine Klingel am Bett, mit der ich meine Bedürfnisse signalisieren konnte. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als zwei freundliche Damen, mit denen ich mir auch einen angenehmen Abend vorstellen konnte, an meinem Bett erschienen. Sie banden mich los und sagten, ich dürfe aufstehen und mich ankleiden. Vorsichtig, da meine Beine mir wohl zuerst einmal nicht richtig gehorchen würden. Da hatten sie Recht, ich konnte gar nichts tun. Deshalb halfen sie mir, mich anzuziehen. Aber das waren gar nicht meine Sachen. Das waren Scheiß-Ostklamotten in die sie mich steckten. Fuchsjeans und so Kram. Mich schauderte.

„Da stimmt was nicht, das sind die falschen Sachen. Die gehören jemand anderes. ich trag solchen Scheiß nicht!“

„Du bist nackt hier eingeliefert worden, zumindest soviel wir wissen. Also nimm die jetzt. Und jetzt warte hier, es kommt dich gleich jemand abholen.“

Ich lief ein paar Schritte durch das Zimmer. Das waren keine Jeans, das war eindeutig eine Krankheit.

Bäh und dieses chemiefaserige Shirt erst. Die Tür wurde unsanft aufgestoßen und ein pickliger Hühne in Tarnkleidung schrie mich an: „Wesensbitter, mitkommen!“

Ich folgte ihm durch lange Gänge. Was war das für eine Uniform? Die kannte ich gar nicht. Er trug auch keinerlei Rangabzeichen oder dergleichen. Er stoppte, klopfte kurz an eine Tür, öffnete sie dann und schob mich in den Raum. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann, ebenfalls in Tarnkleidung, der kurz aufblickte, mich mit eisigen Augen musterte und sich dann wieder seinen Akten widmete. Ich blieb stehen und wartete. Meine Beine begannen zu zittern, ich war keine Anstrengung mehr gewöhnt. Ohne aufzusehen, wies mir der Typ mit einer knappen Handbewegung einen Stuhl zu und las weiter.

„Hätten sie vielleicht eine Zigarette für mich?“ fragte ich, nachdem ich die F6 Schachtel auf seinem Schreibtisch fünf Minuten lang betrachtete hatte. Er reagierte nicht. Ich hielt weitere fünf Minuten durch, aber die Gier nach Rauch wurde immer größer. Also fragte ich erneut: „Tschuldigung, aber könnte ich vielleicht eine Zigarette haben?“ Er las weiter und schleuderte mir die Schachtel mit solcher Wucht entgegen, daß ich sie nur mit großer Mühe fangen konnte. Ich nahm mir eine Zigarette heraus, und legte die Schachtel vorsichtig zurück.

„Äh, sorry, tut mir ja leid, wenn ich schon wieder störe, aber haben sie noch Feuer?“

Die Streichholzschachtel kam so schnell und präzise geflogen, das ich nicht reagieren konnte und einen Volltreffer, genau zwischen den Augen, kassierte. Was war denn das für ein Arschloch? Ich inhalierte tief und ein angenehmes Schwindelgefühl überkam mich. Er hatte offensichtlich genug gelesen, denn er schlug seine Akte zu und fixierte mich. Sein Blick war starr und so bösartig, daß mich schauderte.

„Na Wesensbitter, viel Hoffnung, daß aus Dir mal was Vernünftiges, geschweige denn eine sozialistische Persönlichkeit wird, braucht man wohl nicht zu haben! Was Euch kleinen Scheißern allen fehlt, ist der Respekt und die Achtung. Wenn es nach mir gehen würde, dann würdest du schon im Zug nach Sibirien sitzen. Dort würdest du wohl kaum auf die Idee kommen, mit so einer Frisur rum zu rennen und dir die Namen von dekadenten Westcombos auf den Arm zu schreiben. Ich brauche wohl nicht betonen, das du über alles Gehörte, Gesehene und Gedachte zu schweigen hast. Wir behalten dich im Auge, verlaß dich drauf. Und glaub mir, verstößt du dagegen, erzählst du auch nur deinem Goldhamster ein Sterbenswörtchen, dann knallt‘s im Karton. Und zwar gewaltig. Verstanden!“

„Jaja, aber was war das denn nun. Ich meine ist okay, ich werd mit niemandem drüber reden, aber ich würde schon gerne wissen, wer mir da auf dem Kopf rumgestiefelt ist. Waren das am Ende gar getarnte Sachsen?“ Ich wußte auch nicht warum ich das fragte, irgendwie wollte ich ihn wohl ärgern, denn sein Dialekt war nicht zu überhören. Er lief rot an und gab mir eine Backpfeiffe, die aus dem Nichts zu kommen schien und nur so klatschte. Mein Gesicht brannte, aber ich war befriedigt, ich fühlte mich überlegen, denn ich hatte ihn aus der Fassung gebracht.

„Raus mit dir, bevor ich mich vergesse und dich zu Hackfleisch verarbeite.“

Die Tür öffnete sich und der picklige Hüne kam herein und packte mich am Arm. Er zog mich auf den Gang, wo er mir einen Hieb in den Magen verpaßte. Einen leidenschaftslosen, aber ich sackte trotzdem in mich zusammen. Er schleifte mich hinter sich her und setzte mich im Hof in einen schwarzen Lada und verband mir die Augen.

„Die Sachen gibst du dem Fahrer, nachdem du dich zu Hause umgezogen hast. Und laß dich nie wieder blicken. Dein Fressbrett ist bei mir abgespeichert, seh ich dich noch mal, mach ich Blutwurst aus dir.“

Ich nickte, wo auch immer ich hier war, sie schienen sehr Fleischerei-fixiert zu sein. Da war ich ja gespannt, was der Fahrer aus mir machen wollte. Der schien aber ganz nett zu sein. Er schob mir eine Zigarette zwischen die Lippen, ließ mich ziehen und sang laut zu “Stay by my Side“, das gerade in Radio lief, mit. Das würde ich nicht!

Zu Hause war natürlich niemand und ich hatte keinen Schlüssel. Der Fahrer hatte mir 5 Minuten Zeit gegeben. Also klingelte ich panisch an den anderen Türen. Die Einzige, die in diesem ganzen beschissenen Haus da war, war die alte Katschmarek. Wir konnten uns überhaupt nicht leiden, aber ich schilderte ihr meine mißliche Lage derart eindringlich, das sie sich bereit erklärte, mir zu helfen. Und so flitzte ich in einem rosa Morgenmantel zum Lada zurück und lieferte die Klamotten ab.

„Wird auch Zeit, ich dacht schon ich muß dich suchen kommen. Dann hät ich Napfsülze aus dir gemacht“ fauchte der Fahrer. Ich stürzte zurück ins Haus, denn so gesehen zu werden, war fraglos noch tausendmal schlimmer, als in Ostjeans. Frau Katschmarek lud mich zum Tee ein, damit ich nicht auf der Treppe sitzen müßte. Sie erzählte vom Krieg, vom Hunger und wie ihr Mann mit kompletten Dachschaden aus Rußland heimgekehrt war. Das interessierte mich zwar eigentlich alles überhaupt nicht, aber sie war eine richtig gute Erzählerin und, naja, ich hatte auch eigentlich keine andere Wahl, als zu zuhören. Irgendwann meinte sie dann: „Deine Schwester ist grad gekommen.“

„Hä, woher wissen Sie denn das?“ fragte ich verblüfft.

„Ich hörs an den Klapperlatschen auf der Treppe. Meine Augen lassen zwar nach, aber die Ohren werden immer besser.“

Ich bedankte mich bei ihr und versprach den Morgenmantel gewaschen zurückzubringen. Meine Schwester starrte mich verwundert an.

„Ieee was bist du denn? Die Schwuchtel aus den Bergen? Unrasiert und im Morgenmantel. Oder machst du jetzt einen auf Exibitionist? Und wo warst du überhaupt die ganze Zeit? Wir haben uns hier voll die Sorgen gemacht und die Alte ist total am durchdrehen. Hättest ja wenigstens anrufen können.“

„Hatte kein Kleingeld! Wie lange war ich denn überhaupt weg?“

„Du bist echt ein Vollspast Morten. Verdrückst dich einfach und weißt von nichts. Du bist seit vier Tagen überfällig. Man bist du blöd.“

Seit vier Tagen? Das hieß ich mußte fünf Tage dort gewesen sein? Und ich hatte nicht das geringste Gefühl dafür. Meine Schwester ließ mich stehen und verschwand wieder in ihrem Zimmer. An der Musik erkannte ich, das Jazzdance-Zeit war. Ich ließ mir ein heißes Bad ein und machte es mir mit den Zeitungen der letzten Tage gemütlich. Union hatte Karl-Marx-Stadt 3:2 weggeklatscht und war 3. in der Tabelle. Und ich war nicht dabei gewesen! Ich suchte nach irgendetwas über den Fliegeralarm, aber darüber stand nichts, absolut gar nichts. Wie immer, war alles eitel Sonnenschein, der Plan wurde übererfüllt, die Bruderstaaten standen fest an unserer Seite und alle Menschen waren glücklich. Außer meine Mutter, denn die stand plötzlich im Bad und verpaßte mir schreiend und völlig in Tränen aufgelöst eine Ohrfeige nach der anderen, bevor sie mich in die Arme schloß.

„Morten mein Sohn, was machst du bloß für Sachen? Womit hab ich das verdient?“ schluchzte sie.

„Aber ich hab doch gar nichts gemacht!“ Und dann erzählte ich ihr alles. Sie wurde blaß, bekam rote Flecken im Gesicht und ihre Lider zuckten.

„Stimmt das auch alles? Du schwindelst mich nicht an?“

„Warum soll ich denn lügen? Und ich hab echt keine blase Ahnung, was das alles bedeutet!“

„Na ganz offensichtlich habt ihr zwei irgendetwas gesehen, was ihr nicht sehen solltet. In der Schule behaupten sie, ihr habt in der Hofpause Alkohol getrunken, euch der Alarmübung entzogen und seid unerlaubt verschwunden. Dafür haben sie euch einen Verweis erteilt. Ab nächster Woche mußt du in eine andere Schule gehen. Wurde gestern im Lehrerkollegium beschlossen.“

„Wie Bitte? Haben die den Arsch offen?“

„Die haben keinen in der Hose, das ist das Problem. Und das schlimmste ist, wir können gar nichts dagegen tun. Ich hab mit Monika Baltrusch geredet, die sagt, das kommt von ganz oben.“

Während Mutter schluchzend aus dem Bad lief, verlor ich endgültig den Überblick. Also noch mal ganz ruhig – ich war fünf Tage im Irgendwo, ans Bett gefesselt, wurde pausenlos verhört, bekam Redeverbot und wurde, auf Befehl von ganz oben, von der Schule verwiesen. Wenn hier keine Sauerei am Laufen war, dann wußte ich auch nicht mehr. Aber warum mußte ausgerechnet ich das Opfer sein? Ich stieg aus der Wanne, rasierte mir den schrecklichen Flaum aus dem Gesicht und toupierte meine Haare leicht an. Dann entschied ich mich für eine ausgewaschene Wrangler, weißes Shirt und kariertes Hemd. Ahh, das war gut. Ich fühlte mich endlich wieder als Mensch. Es klingelte und ich hörte Mutter an der Tür diskutieren. Ich zog einen Geldschein aus meinem Sparschwein und nahm meine abgewetzte Lederjacke. Im Hausflur stand Thomas..

„Is okay Mom.“ Ich zog meine Turnschuhe an.

„Morten, muß das sein? Kannst du nicht wenigstens heut zu Hause bleiben, nach all diesen schrecklichen Dingen?“

Ich wußte was sie eigentlich meinte, aber wie immer nicht sagte. Sie erwartete, daß ich mich von Thomas fern hielt. Aber das erwartete sie schon seit 10 Jahren. Vergeblich.

„Wir müssen ein paar Dinge klären. Das ist doch wohl klar. Ich komm nicht so spät.“

Ich gab ihr einen Kuß auf die Wange und zog die Tür hinter mir zu.

„Anglerheim?“

„Waldland!“

Thomas gab mir eine Cabinet, wir rauchten und liefen eine Weile schweigend nebeneinander her.

 

Die ‘Gaststätte‘ Waldland war ziemlich leer, aber trotzdem wie üblich total verqualmt. Der Wirt hatte auch schon leicht einen sitzen. „Na Männer, och ma wieder da? Sollt wat großet sein?“

Wir nickten und setzten uns an einen Fenstertisch. Mit Ausblick auf frisch umgegrabene Beete und gestutzte Hecken. Waldland war echt ein mieser Schuppen. Ich holte die Bierse vom Tresen ab,

orderte gleich zwei neue und eine Schachtel Club.

Nachdem wir angestoßen und das Bier hintergeschüttet hatten, hielt ich es nicht länger aus.

„Wat war das am Sonnabend? Hast du was gesehen? Hast du irgendeine Peilung?“

Thomas zog seine rot-weiße Strickmütze vom Kopf und ich erschrak. Er hatte eine Glatze. Eine volle Bombe. Und da bemerkte ich erst, daß er auch keine Augenbrauen mehr hatte. Und keinen schwarzen Bartschatten, wie sonst. Er war vollkommen haarlos. Harry kam an unseren Tisch geschlürft und stellte frisches Bier hin. Und zwei KiWi.

„Jeht uffs Haus, ihr seht so aus, als wenn ihr det bräuchtet.“

„Dank dir. Kannste uns noch zwee Bockwürschte mit Salat machen? Det brochen wir och.“ sagte ich.

„Na ick frach ma die Ilse, ob die noch Lust hat in’ne Küche zu jehn, denn bring ick euch det.“

Als Harry weg war, wir unseren Kirsch-Whisky gekippt hatten und Thomas sich vergewissert hatte, das niemand in unserer Nähe war, zeigte er auf seinen kahlen Schädel und sagte: „Det war der Schock. Sind über Nacht alle ausjefallen. Wächst vielleicht nie wieder wat. Also willste wirklich immer noch wissen, wat da abging?“

Ich nickte. Und selbst wenn ich danach auch als Kahlkopf durch die Welt marschieren müßte. Wenigstens einmal wollte ich die Wahrheit wissen.

„Okay Morten, aber paß auf, was ich dir jetzt erzähle, ist das absolute Geheimnis. Das darf niemand wissen. Niemand. Vastehste? Wenn irgendwas davon rauskommt, dann sind wir tot. Richtig tot. Das ist kein Joke, das ist voller Ernst. Kapiert?“

„Yes! Voll vastanden!“

„Mein Onkel Hans ist Oberst bei der Abwehr. Der…“

„Hans? Der starke Hans, der immer die Freikarten für die Auswärtsspiele besorgt hat? Der immer die vielen Pilsbestecke ins Stadion geschmuggelt hat. Der ist doch Klempnermeister bei der PGH Fortschritt?“ unterbrach ich ihn.

„Ja genau der. Ich war auch total geknallt, aber die ganze PGH ist bloß so’n Tarnding. Als ich mit ihm in Jena war, beim 0:0, da haben wir uns auf der Rückfahrt ordentlich einen hinter die Binde gekippt. Und dann fing er plötzlich an, mir seine ganze Scheiße zu erzählen. Wie satt er ist, von diesem dämlichen Staat und den ganzen kranken Regeln und der Verarscherei. Der hat sich eigentlich nie für Fußball interessiert, aber dann fand er das so spannend, mit uns durch die Stadien zu ziehen, daß er irgendwann echter Unioner geworden ist. ‘Durch euch hab ich wieder leben gelernt‘ hat er gesagt, bevor er umgefallen ist auf‘m Bahnhof. Jedenfalls der hat mich vorgestern aus dem Knast geholt.“

„Aus’m Knast?“

„Na, wat denkst du denn, wo du warst? Im Seniorenheim? Nee Alter, du warst im Abwehrknast. Dich konnte er nicht rausholn, aber er wollte dafür sorgen, das sie dich in Ruhe lassen.“

„Meinst du eigentlich die Stasi mit Abwehr?“

„Ach Scheiß, die Stasi ist doch nur Kindergarten. Die Abwehr beschäftigt sich mit den richtigen Problemen. Die Stasi macht den Rest.“

Er blickte sich wieder prüfend um, aber wir waren unbeobachtet. Die anderen Besaufniks spielten alle Skat und hatten genug mit sich zu tun.

„Okay. Jedenfalls hat Hans mich da raus geholt und mir alles erzählt. Kannst du dich noch an Sigmund Jähn erinnern? Unseren Fliegerkosmonaut? Der hatte im Auftrag vom ZK jede Menge Geheimbotschaften ins All mitgenommen. Nachts, wenn die Russen besoffen waren und pennten, hat er die heimlich ins Universum gefunkt. Hans meint, das war lauter komisches Zeug, mit Musik von Stern Combo Meißen und Electra, die Texte waren in Phantasiesprachen, die extra von der Humboldt-Uni ausgetüftelt worden waren. Die Russen haben nix gemerkt und alles geriet in Vergessenheit. Bis vor 4 Jahren, als plötzlich eine Antwort darauf kam. Jetzt stell dir die Aufregung vor. Die DDR hat Kontakt zu Außerirdischen! Und versteht sich mit denen auch noch richtig Klasse, weil die wohl auch irgendwie sozialistisch drauf sind. Wenn man die als Bündnispartner gewinnen könnte, dann gibt’s haufenweise neue Technologien, Waffen, Rohstoffe…Der Osten könnte die Weltherrschaft erringen. Nich die Russen oder die Amis, sondern wir! Die ganze Welt unter dem Zepter von Ostdeutschland! Und dafür taten die Alles. Am letzten Samstag sollte der erste persönliche Kontakt erfolgen, unter einer derartigen Geheimhaltung, wie es sie noch nie gegeben hat. Und dann kollidieren die Außerirdischen im Landeanflug mit einem Agrarflugzeug, was Überstunden fliegt, verlieren die Orientierung und landen anstatt in Wandlitz, auf‘m Schulhof in Oberspree. Und finden anstatt dem roten Teppich, dem Büffet des Friedens, und den von Honecker persönlich versprochenen hundert immerbereiten Jugendfreundinnen, nur uns beide hinter dem Schulgartenschuppen. Da waren sie, verständlicher Weise, ziemlich sauer.“

Diese Geschichte war zu schräg. Hatten sie Thomas irgendwas ins Hirn implantiert? Ich glaubte ihm kein Wort.

„Hast du die Aliens gesehen?“

„Nich richtig. Als die an meinen Klamotten rumgefummelt haben, ist der komische Sack verrutscht, den ich über dem Kopf hatte. Aber glaub mir, das bißchen, was ich gesehen hab, hat gereicht. Einfach fürchterlich ekelerregend.“

„Und was passierte dann?“

„Dann haben sie uns ins Koma geschickt, unsere Sachen geklaut und sind abgeflogen. Das wars dann wohl, fürs erste, mit der Weltherrschaft für den Osten. Man Alter, willkommen im Wespennest, denn obwohl wir gar nichts dafür können, sollen wir jetzt daran Schuld sein, das alles schief gegangen ist!“

„Und wir waren echt nackt, als man uns gefunden hat?“

„Komplett. Wir lagen da wie gekreuzigt und hatten keinen Faden am Leib. Wußtest du eigentlich, daß die uns sogar per Hubschrauber abtransportiert haben?“

„Nee. Das letzte woran ich mich erinnern kann, war das du ‘Scheiß Chemiker‘ gesagt hast, danach fehlt bei mir alles.“

„Na du warst ja auch nicht schlecht. Du hast um dich getreten und ‘Ihr dreckigen Sachsentrottel, ihr schwülen Vollvotzen‘ gebrüllt. Aber dann, ist bei mir auch Ende.“

Ich sollte das gebrüllt haben? War ja eher nicht so meine Art. Aber das war jetzt auch egal. Wir stießen unsere Biergläser so heftig aneinander, das es klirrte und Harry besorgt seinen Kopf aus der Küchendurchreiche streckte.

„Prost Harry, bring ma glei noch zwo Halbe hier rüber. Und mach dir och eens.“

Die Vorstellung, daß jetzt irgendwo, auf einem fernen Planeten eine außerirdische Lebensform, mit meinem Unionschal um den Hals, spazieren ging, euphorisierte mich derart, daß ich aufsprang, Thomas umarmte und ihn auf die kahle Stirn küßte.

„Man Alter, kann det mehr Sinn im Leben geben, als den 1.FC Union auch zu den Sternen zu bringen?“

Thomas schüttelte den Kopf und sagte: „Dieser Scheiß KiWi spült dich immer so weich im Kopf. Da kommst du echt auf die beklopptesten Ideen. Anstatt traurig zu sein, daß unser Land nicht über die Welt herrscht, denkst du nur an Union. Aber Scheiß druff, du hast Recht. Ach, eh ichs vergesse. Schönen Gruß von Kathrin. Die hab ich vorhin getroffen. Sie hat heut sturmfreie Bude und würde sich freuen, wenn du nachher noch vorbeikommst. Und die war übrigens, auch nicht in der Turnhalle.“

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